Das Selfie-Phänomen
Sie sind einfach zu erstellen, schnell gemacht und werden gerne weitergegeben:
Selfies, die schnellen Selbstportraits auf Armeslänge, die uns in Verbindung mit dem Internet in allen Umständen, zu aller Zeit und allerorts die Entscheidung ermöglichen, wie wir uns wann präsentieren möchten.
Besonders beliebt sind Selfies unter Mädels und jungen Frauen. “Spieglein, Spieglein an der Wand…” ist Vergangenheit. Heute gilt: “Selfie, Selfie, in der Hand…” . Das Zauberwort heißt Competitive Interestingness, das ist der Wettstreit darum, wer im Netz am interessantesten ist. Ohne Filter und Duckface (Schnulle oder Schmollmund) geht gar nichts mehr, meinen die einen, während andere davon überzeugt sind, dass man mit einem Drelfie (Selfie im betrunkenen Zustand) oder gar einem Nudies (Nackt-Selfies) wesentlich mehr Klicks auf den Like-Button einhamstert.
Doch auch die Jungs haben die Selfies entdeckt, um sich in Szene zu setzen. Ihnen geht es meist darum, sich möglichst cool zu präsentieren. Wenn das Selbstportrait sich nicht mehr von den anderen abhebt, dann müssen entsprechende Kulissen gefunden werden! So entstehen immer mehr Selfies mit Bären oder anderen wilden Tieren im Hintergrund. Andere portraitieren sich mit einem feuerspeienden Vulkan im Hintergrund, der nächste nimmt sich beim Stierlauf auf und hält den rennenden Bullen hinter sich im Bild fest. Wieder andere versuchen die Aufmerksamkeit ihrer Community mit Skydiving-Selfies zu erlangen, oder mit Cliff Jumping Selfie zu punkten. Der absolute Hit scheinen wohl die Skyscraper Rooftoping Selfies zu sein, für das ein hohes Gebäude erklommen wird und ein Selfie on the top gemacht wird. Statt Hintergrund ist dann der Abgrund zu sehen, aus dem man aufgestiegen ist!
Der Selfie Boom im Internet ist unaufhaltsam. So ist es auch kein Wunder, dass das Wort “Selfie” im Jahr 2013 zum Wort des Jahres gekürt wurde.
Nichts gegen ein paar Fotos, aber was, wenn der ausgestreckte Arm der Smartphone-Kamera mehrmals am Tag gezückt wird oder sein Besitzer ständig den Drang verspürt sich selbst fotografieren zu müssen?
Das, was für die anderen Spaß und Angeberei ist, ist für viele zu einem Problem geworden. Es ist der Ausdruck einer fehlenden Komponente in ihrem Leben, denn wer immer wieder den Wunsch verspürt, ein Bild von sich selbst zu veröffentlichen, der möchte sich und seiner Umwelt immer wieder nachweisen: Hallo, ich lebe!
Die Begeisterung für Selfies ist vor einiger Zeit offiziell als psychische Störung anerkannt worden.
Selfies, so heißt es, sind keine Sucht, sondern eine Zwangsstörung. Zwei Drittel der Patienten mit Körperbildstörungen (das sind Menschen, die ihren eigenen Körper gestört wahrnehmen) müssen zwanghaft von sich selbst Fotos machen. Viele junge Männer, die in diese Kategoerie fallen, leiden z.B. unter dem Adonis-Komplex.
Die Tragik: Solche Menschen sind krampfhaft auf der Suche nach dem perfekten Körper, oder nach dem perfekten Bild ihres Körpers, oder auch nach beidem. Um ihren Körper zu perfektionieren stellen sie alles andere hinten an. Nicht nur Schule und Beruf, auch Freunde, Familie u.a.m.
Der britische Teenager Danny Bowman versuchte Selbstmord zu begehen, weil er mit den Auftritten seiner Selfies unzufrieden war. Gegenüber dem Sunday Mirror sagte er: “Ich war ständig auf der Suche nach dem perfekten Selfie und als ich dachte ich bekomme es nicht hin, wollte ich sterben.”
Er war so verzweifelt, dass er 10 Stunden am Tag mehr als 200 Selfies von sich aufnahm, um das perfekte Bild zu finden. Diese Angewohnheit, die im Alter von 15 Jahren begann, ließ ihn in der Schule versagen und mehrere Kilo Gewicht verlieren. “Ich verlor meine Freunde, meine Ausbildung, meine Gesundheit und fast mein Leben”. (Quelle: Sunday Mirror-Online http://www.mirror.co.uk/news/real-life-stories/selfie-addict-took-two-hundred-3273819)
Eine andere Art von Perversion im Zusammenhang mit Selfies lieferte der 22-jährige Pascal aus dem Kreis Stade. Innerhalb von 21 Tagen vergewaltigt er zwei Frauen und machte dabei insgesamt 94 Selfies, während er seine Opfer missbrauchte. Übrigens wurde er Aufgrund dieser Fotos dann auch der Tat überführt. (Quelle: focus-online http://www.focus.de/panorama/welt/94-fotos-von-den-opfern-22-jaehriger-vergewaltigt-zwei-maedchen-und-macht-selfies_id_4110854.html)
Die integrierten Kameras der Smartphones, und vor allem die Smartphones selbst, vermögen wirklich viel. Sie halten uns am Laufenden über alles was wir wissen sollen oder wollen, und sie halten vor allem den Kontakt mit unseren Freunden.
Noch nie zuvor hatten wir die Möglichkeit in so effizienter Weise zu kommunizieren wie heute. Doch gleichzeitig, kommt mir vor, haben wir vergessen wie man kommuniziert. Unsere Gespräche, unsere Beiträge in den Foren und Chats werden immer flacher, immer kürzer, immer inhaltsloser. Und dieses Manko, diese Leere, vermag selbst das teuerste Smartphone nicht zu füllen!
Selbst das neueste Smartphone ist nicht in der Lage die fehlende Komponenten der menschlichen Psyche zu ersetzen oder auch nur annähernd auszugleichen.
Es kann dich mit all seinen Funktionen nicht darüber hinwegtrösten, wenn dich die Clique nicht vorbehaltslos aufnimmt, integriert oder zumindest akzeptiert.
All seine Scanner-Funktionen und Erfassungsmöglichkeiten werden dir niemals glaubhaft bestätigen, dass du perfekt in Szene gesetzt bist und genügend Aufmerksamkeit erhalten wirst.
Dein Smartphone hat trotz aller Features doch Grenzen. Es kann dir letztlich nicht helfen dein Leben wirklich in den Griff zu bekommen. Dazu braucht es einfach mehr!