Stichwörter: Ausstieg, Bob Dylan, Einstieg, Leben, Ruhe der Rastlosen
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31. Juli 2014 um 20:56 #4057
Ich fragte mich, was ich eigentlich im Klassenzimmer zu suchen hatte. Nein, mein Platz war draußen, dort, wo geliebt, gelitten, gekämpft und gelebt wurde, nicht hier, wo darüber doziert und problematisiert, wo theoretisiert und analysiert wurde. Ich würde nicht mehr Regisseur, sondern Schauspieler sein, nicht Autor, sondern Held des Dramas. Ich hatte lange genug über das Leben nach- gedacht – nun würde ich es praktizieren. »Grau ist alle Theorie, doch grün des Lebens goldener Baum«)…
Ich war in der Abschlussklasse des Gymnasiums und im kommenden Frühling würde ich Abitur machen, aber ich war wie besessen von dem Gedanken, keinen Kompromiss zu schließen und nicht eine Woche länger in der Schule zuzubringen. Sie belastete mich zwar nicht, aber das Ganze schien mir eine grenzenlose Zeitvergeudung. Während wir im Unterricht über das Leben diskutierten und theoretisierten, wurde es anderswo gelebt. Ich rechnete schon damals ziemlich fest damit, jung zu sterben (die Devise der Rock-Kultur war und ist ja: »Live fast, love hard, and die young« ) und hatte ziemliche Angst, zu viel meiner Zeit vergeudet zu haben…
»Lasst mich das Wasser der Bergbäche genießen,
lasst den Duft wilder Blumen durch meine Adern fließen,
lasst mich schlafen auf Wiesen in einem Meer von Blüten,
lasst mich den Highway entlanggehen mit meinem Bruder in Frieden.
Ich will aufrecht sterben, bevor ich unter der Erde verschwinde.«(Bob Dylan – Let Me Die in My Footsteps – Song anhören / Originaltext lesen)
…O ja, ich konnte gut über diese oder jene Lebensanschauung theoretisieren, ich konnte sogar meine eigene Unfähigkeit, mein Versagen diesen Idealen gegenüber zugeben – und das wurde mir dann als »Bescheidenheit« und »gesunde, kritische Selbsteinschätzung« ausgelegt. In Wirklichkeit war ich hochmütig und zynisch – hochmütig aus Angst und zynisch aus Verzweiflung. Ich konnte es mir einfach nicht leisten, das im Hintergrund ständig lauernde Gespenst der Leere und Sinnlosigkeit auch nur ein bisschen an Boden gewinnen zu lassen, und Verachtung und Zynismus anderen gegenüber mussten dazu als Schutzmaßnahme herhalten.
Das Lied »Just a Season« drückt ziemlich gut mein Leben in dieser Zeit aus, könnte aber auch als Überschrift über meinem ganzen früheren Leben stehen. Ich hatte in der Arena des Lebenskampfes bisher nie eine richtige Schramme abbekommen, alles war mir in den Schoß gefallen, wie von selbst waren mir Anerkennung und Wertschätzung zugeflossen – und doch habe ich all das nur zum Zeitvertreib verwendet, indem ich andere hereinlegte und sie hinterrücks für mich ausnutzte, weil ich oft »genau wusste, was sich in ihren Köpfen abspielte«. Ich hatte meinen Spaß mit diesem und jenem Mädchen gehabt und sie dann im Regen stehen lassen. Wie oft habe ich gesagt: »Ich liebe dich« – und dabei, bewusst oder unbewusst, gedacht: »Ich liebe mich, und will dich dazu ge- bzw. missbrauchen.«…
Auszug aus dem Buch “Die Ruhe der Rastlosen”, in dem junge Leute berichten, wie ruhelos und umhergetrieben sie in ihrer Vergangenheit waren, auf der Suche nach dem wahren Leben.
Dieses Taschenbuch bekommt man für 1,90 im CLV-Verlag, oder als kostenlosen Download im PDF-Format. -
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